AJIHAD

Eragon betrat eine elegante, zweistöckige Bibliothek, deren Wände mit Bücherregalen aus Zedernholz verkleidet waren. Eine schmiedeeiserne Wendeltreppe wand sich zu einem kleinen Alkoven mit zwei Stühlen und einem Lesetisch empor. An Wänden und Decke hingen Laternen, die weißes Licht verströmten, sodass man überall im Raum lesen konnte. Den Steinfußboden zierte ein prachtvoller ovaler Teppich. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Mann hinter einem großen Schreibtisch aus Walnussholz.

Seine dunkle Haut glänzte wie geöltes Ebenholz. Sein Schädel war völlig unbehaart, doch er hatte einen gepflegten Oberlippenund Kinnbart. Seine markanten Züge verliehen ihm etwas Kriegerisches, doch unter seinen buschigen Augenbrauen blickten ernste, intelligente Augen hervor. Seine Schultern waren breit und kräftig, betont von einer v-förmig geschnittenen, mit Goldfäden bestickten roten Weste über einem purpurfarbenen Hemd. Er strahlte Würde und eine starke, natürliche Autorität aus.

Seine Stimme klang kräftig und selbstsicher, als er sie ansprach. »Willkommen in Tronjheim, Eragon und Saphira. Ich bin Ajihad. Bitte, nehmt Platz.«

Eragon setzte sich neben Murtagh auf einen Stuhl, während Saphira sich schützend hinter ihnen niederließ. Ajihad hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Ein Mann trat hinter der Wendeltreppe hervor. Er sah genauso aus wie der Kahlkopf neben ihm. Eragon starrte die beiden überrascht an und Murtagh erschrak. »Eure Verwirrung ist verständlich; sie sind Zwillingsbrüder«, sagte Ajihad lächelnd. »Ich würde euch ihre Namen verraten, aber sie haben keine.«

Saphira fauchte verächtlich. Ajihad sah sie einen Moment lang an, dann setzte er sich in einen hochlehnigen Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Die Zwillinge bezogen unter der Treppe Posten und standen reglos nebeneinander. Ajihad presste die Finger gegeneinander, während er Eragon und Murtagh musterte. Sein forschender Blick bohrte sich in ihre Gesichter.

Eragon rutschte unbehaglich auf seinem Platz hin und her. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, ließ Ajihad die Hände wieder sinken und gab den Zwillingen erneut ein Zeichen. Einer der beiden eilte zu ihm. Ajihad flüsterte ihm etwas ins Ohr. Plötzlich erbleichte der Mann und schüttelte heftig den Kopf. Ajihad runzelte die Stirn, dann nickte er, als hätte sich soeben etwas bestätigt.

Er sah Murtagh an. »Deine Weigerung, dir in den Geist schauen zu lassen, bringt mich in eine schwierige Lage. Dir wurde nur erlaubt, Farthen Dûr zu betreten, weil die Zwillinge mir versichern, dass sie dich unter Kontrolle haben, und weil du Eragon und Arya geholfen hast. Mir ist klar, dass es Dinge gibt, die du lieber für dich behalten möchtest, aber solange du das tust, können wir dir nicht trauen.«

»Ihr würdet mir ohnehin nicht trauen«, sagte Murtagh trotzig.

Bei diesen Worten verdüsterte sich Ajihads Miene und seine Augen blitzten gefährlich. »Es ist zwar dreiundzwanzig Jahre her, seit ich sie zum letzten Mal gehört habe ... Aber ich kenne diese Stimme.« Die Zwillinge blickten beunruhigt drein und steckten aufgeregt flüsternd die Köpfe zusammen. »Sie kam aus dem Munde eines anderen Mannes, der mehr Tier als Mensch war. Steh auf.«

Misstrauisch folgte Murtagh der Aufforderung, während sein Blick zwischen den Zwillingen und ihrem Herrn hin und her schoss. »Zieh dein Wams aus«, befahl Ajihad als Nächstes. Achselzuckend  gehorchte Murtagh. »Jetzt dreh dich um.« Als er ihm den Rücken zuwandte, fiel das Licht auf die schreckliche Narbe.

»Murtagh«, stieß Ajihad hervor. Orik entfuhr ein überraschter Grunzer. Ohne Vorwarnung fuhr Ajihad zu den Zwillingen herum und herrschte sie an: »Habt ihr das gewusst?«

Die beiden zogen die Köpfe ein. »Wir fanden seinen Namen in Eragons Geist, hätten aber nie gedacht, dass dieses Bürschchen der Sohn eines so mächtigen Mannes wie Morzan sein könnte. Es war ... «

»Und das habt ihr mir nicht erzählt?«, sagte Ajihad. Mit einer Handbewegung würgte er ihre Erklärungsversuche ab. »Darüber reden wir später.« Er wandte sich wieder Murtagh zu. »Zuerst muss ich dieses Durcheinander ordnen. Weigerst du dich noch immer, dich prüfen zu lassen?«

»Ja«, sagte Murtagh bestimmt und zog sich wieder an. »Ich lasse niemanden in meinen Geist eindringen.«

Ajihad stützte sich auf die Platte seines Schreibtischs. »Es wird unangenehme Folgen haben, wenn du weiterhin dickköpfig bleibst. Solange mir die Zwillinge nicht bestätigen, dass du keine Bedrohung darstellst, können wir dir keinen Glauben schenken, trotz oder gerade wegen der Hilfe, die du Eragon hast angedeihen lassen. Ohne diese Gewissheit werden dich die Leute - Menschen wie Zwerge - in Stücke reißen, wenn sie von deiner Anwesenheit erfahren. Ich müsste dich einsperren - zu deinem eigenen Schutz und zu unserem. Und es wird noch schlimmer, wenn Hrothgar, der Zwergenkönig, verlangt, dich in ihre Obhut zu überführen. Bring dich nicht in eine solche Situation, wenn du es mühelos vermeiden kannst.«

Murtagh schüttelte eigensinnig den Kopf. »Nein, selbst wenn ich einwillige, würde man mich doch wie einen Aussätzigen behandeln. Alles, was ich will, ist verschwinden. Wenn ihr mich in Frieden gehen lasst, werde ich dem Imperium niemals etwas von eurem Versteck verraten.«

»Und was passiert, wenn man dich gefangen nimmt und zu Galbatorix bringt?«, wandte Ajihad ein. »Er wird deinem Geist jedes Geheimnis entlocken, ganz gleich wie stark du bist. Selbst wenn du ihm standhalten könntest, woher sollen wir wissen, dass du dich nicht doch irgendwann einmal auf seine Seite schlägst?«

»Wollt ihr mich ewig gefangen halten?«, fragte Murtagh und richtete sich kerzengerade auf.

»Nein«, sagte Ajihad. »Nur so lange, bis du es zulässt, dass wir deinen Geist prüfen. Wenn du für vertrauenswürdig befunden wirst, entfernen die Zwillinge die Erinnerung an die Lage von Farthen Dûr aus deinem Geist, bevor du uns verlässt. Wir riskieren nie, dass jemand mit diesem Wissen Galbatorix in die Hände fällt. Was soll geschehen, Murtagh? Entscheide dich schnell, sonst treffen wir die Entscheidung für dich.«

Jetzt gib schon nach, flehte Eragon, der um die Sicherheit des Freundes bangte, lautlos. Die Sache ist den Ärger nicht wert.

Schließlich verkündete Murtagh in bedächtigen und bestimmten Worten seine Entscheidung. »Mein Geist ist die einzige Zuflucht, die mir nie jemand rauben konnte. Ein paarmal schon haben Leute versucht, in ihn einzudringen, aber ich habe gelernt, ihn aufs Schärfste zu verteidigen, denn nur in meinen innersten Gedanken finde ich wahre Sicherheit. Ihr habt mich gerade um das Eine gebeten, das ich nicht hergeben kann, schon gar nicht gegenüber den beiden da.« Er deutete auf die Zwillinge. »Macht mit mir, was ihr wollt, aber wisst: Ich werde eher sterben, als jemanden in meinen Geist eindringen zu lassen.«

Bewunderung schimmerte in Ajihads Augen. »Deine Entscheidung überrascht mich nicht, obwohl ich das Gegenteil gehofft hatte… Wache!« Die Zedernholztür flog auf und die Soldaten stürmten mit gezückten Waffen herein. Ajihad deutete auf Murtagh und befahl: »Sperrt ihn in den fensterlosen Raum. Stellt sechs Männer am Eingang auf und lasst niemanden herein, bis ich bei ihm war. Und sprecht nicht mit ihm.«

Die Krieger umstellten Murtagh und musterten ihn argwöhnisch. Als sie die Bibliothek verließen, rief Eragon ihm nach: »Es tut  mir Leid!« Doch Murtagh zuckte nur mit den Schultern und starrte stur geradeaus. Er verschwand mit den Männern im Gang. Der Klang ihrer Schritte entfernte sich allmählich.

Plötzlich sagte Ajihad: »Ich will, dass alle außer Eragon und Saphira den Raum verlassen. Auf der Stelle!«

Die Zwillinge verneigten sich und verschwanden, aber Orik sagte: »Der König wird über Murtagh Bescheid wissen wollen. Und dann wäre da noch die Sache mit meinem Ungehorsam ... «

Ajihad zog die Stirn kraus, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Ich sage es Hrothgar persönlich. Und was dein Verhalten betrifft ... Warte draußen, bis ich nach dir schicke. Und sag den Zwillingen, sie sollen hier bleiben. Mit ihnen bin ich auch noch nicht fertig.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte Orik mit einer leichten Verbeugung. Dann zog er die Tür mit einem leisen Knall hinter sich zu.

Nach längerer Stille setzte sich Ajihad mit einem müden Seufzer hin. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und starrte an die Decke. Eragon wartete ungeduldig darauf, dass er etwas sagen würde. Als nichts geschah, platzte er heraus: »Geht es Arya wieder gut?«

Ajihad schaute auf ihn herab und sagte ernst: »Nein, aber die Heiler haben mir gesagt, dass sie genesen wird. Sie haben sie die ganze Nacht über behandelt. Das Gift hat ihr furchtbar zugesetzt. Ohne dich hätte sie nicht überlebt. Dafür sind dir die Varden zutiefst dankbar.«

Erleichtert ließ Eragon die Schultern fallen. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass ihre Flucht aus Gil’ead und die anschließende Hetzjagd sich gelohnt hatten. »Gut, und was jetzt?«, fragte er.

»Du musst mir erzählen, wie du Saphira gefunden hast und was sich seitdem ereignet hat«, sagte der Varde und legte die Fingerspitzen aneinander. »Einiges weiß ich aus der Botschaft, die Brom uns zukommen ließ, anderes von den Zwillingen. Aber ich möchte es von dir hören, besonders die Einzelheiten über Broms Tod.«

Eragon scheute sich davor, diese Dinge einem Fremden zu erzählen, aber Ajihad war geduldig. Jetzt fang schon an, drängte ihn Saphira sanft. Eragon rutschte verlegen herum, dann begann er mit seiner Geschichte. Am Anfang wollten ihm die Worte nur stockend über die Lippen kommen, aber mit der Zeit fiel es ihm immer leichter. Saphira half seinem Erinnerungsvermögen mit gelegentlichen Zwischenbemerkungen auf die Sprünge. Der Varde hörte ihm die ganze Zeit aufmerksam zu.

Eragon redete stundenlang und machte häufig Pausen zwischen den Sätzen. Er berichtete Ajihad von Teirm, behielt aber Angelas Prophezeiung für sich und auch, wie er und Brom die Ra’zac entdeckt hatten. Er erzählte sogar von seinen Träumen, in denen er Arya gesehen hatte. Als er von seiner Gefangenschaft in Gil’ead sprach und den Schatten erwähnte, verhärteten sich die Gesichtszüge des Varden, und er lehnte sich mit trübem Blick zurück.

Als er mit seinem Bericht fertig war, verfiel Eragon in brütendes Schweigen. Ajihad stand auf, verschränkte die Hände auf dem Rücken und betrachtete abwesend die Bücher in einem der Wand-regale. Nach einer Weile kehrte er an den Schreibtisch zurück.

»Broms Tod ist ein schrecklicher Verlust. Er war ein enger Freund von mir und ein mächtiger Verbündeter der Varden. Mit seiner Tapferkeit und Weisheit hat er uns viele Male vor dem Untergang bewahrt. Und noch jetzt, nach seinem Tode, hat er uns ein Vermächtnis geschickt, das unser Überleben sichern kann - dich.«

»Aber was kann ich denn schon für euch tun?«, fragte Eragon.

»Das werde ich dir noch genau erklären«, sagte Ajihad, »aber es gibt dringendere Angelegenheiten, über die wir zuerst sprechen müssen. Die Nachricht vom Bündnis der Urgals mit dem Imperium ist äußerst besorgniserregend. Sollte Galbatorix tatsächlich eine Urgal-Streitmacht zu Hilfe nehmen, um uns zu vernichten, steht das Überleben der Varden auf Messers Schneide, auch wenn viele von uns hier in Farthen Dûr in Sicherheit sind. Dass ein Drachenreiter, selbst ein so bösartiger wie Galbatorix, einen Pakt mit diesen Ungeheuern überhaupt in Betracht zieht, beweist in der Tat, dass er wahnsinnig ist. Mich schaudert bei dem Gedanken, was er ihnen als  Gegenleistung für ihre wankelmütige Loyalität versprochen hat. Und dann ist da ja auch noch der Schatten. Kannst du ihn mir beschreiben? «

Eragon nickte. »Er war groß, hager und sehr blass, hatte gelbliche Augen und purpurrotes Haar. Und er war ganz in Schwarz gekleidet. «

»Wie sah sein Schwert aus - hast du es gesehen?«, fragte Ajihad mit Nachdruck. »War auf der Klinge eine lange Schramme?«

»Ja«, sagte Eragon überrascht. »Woher weißt du das?«

»Weil ich sie verursacht habe, bei dem Versuch, ihm das Herz herauszuschneiden«, sagte Ajihad mit grimmigem Lächeln. »Er heißt Durza und ist einer der teuflischsten und listigsten Dämonen, von denen dieses Land je heimgesucht wurde. Er ist der perfekte Handlanger für Galbatorix und für uns ein gefährlicher Gegner. Du sagst, ihr habt ihn getötet. Wie ging das vor sich?«

Eragon erinnerte sich nur zu gut. »Murtagh hat zweimal auf ihn geschossen. Der erste Pfeil traf ihn in die Schulter, der zweite zwischen die Augen.«

»Das habe ich befürchtet«, sagte Ajihad stirnrunzelnd. »Ihr habt ihn nicht getötet. Einen Schatten kann man nur mit einem Schwertstoß mitten ins Herz vernichten. Alles andere bewirkt bloß, dass er sich in Luft auflöst, um einige Zeit später an einem anderen Ort wieder aufzutauchen. Es ist ein schmerzhafter Prozess, aber Durza wird überleben und stärker denn je zurückkehren.«

Eine düstere, Unheil verkündende Stille, wie die Ruhe vor dem Sturm, breitete sich in dem Raum aus. Nach einer Weile sagte Ajihad: »Du bist ein Rätsel, Eragon, ein Geheimnis, dem niemand auf die Spur kommt. Jeder weiß, was die Varden wollen - oder die Urgals oder selbst Galbatorix -, aber was du vorhast, weiß niemand. Und das macht dich so gefährlich, besonders für Galbatorix. Er fürchtet dich, weil er keine Ahnung hat, was du als Nächstes tun wirst.«

»Fürchten die Varden mich auch?«, fragte Eragon leise.

»Nein«, sagte Ajihad bedächtig. »Wir hoffen auf dich. Aber sollte  sich diese Hoffnung als trügerisch erweisen, dann werden auch wir schließlich Angst vor dir haben, ja.« Eragon schlug betreten die Augen nieder. »Du musst begreifen, in welch außergewöhnlicher Lage du dich befindest. Es gibt Gruppen, die würden dich gern für ihre Interessen vereinnahmen, und zwar nur für ihre eigenen. In dem Moment, als du nach Farthen Dûr kamst, begannen ihr Einfluss und ihre Macht, an dir zu zerren.«

»Gehörst du auch zu einer solchen Gruppe?«, fragte Eragon.

Ajihad lachte, aber seine Augen blieben ernst. »Natürlich. Es gibt einige Dinge, die du wissen solltest: Das erste ist, wie Saphiras Ei in den Buckel gelangte. Hat Brom dir je erzählt, was damit geschah, nachdem er es hierher gebracht hatte?«

»Nein«, sagte Eragon und schaute über die Schulter zu Saphira. Sie zwinkerte ihm zu und streckte ihm die Zunge heraus.

Ajihad trommelte auf die Tischplatte, bevor er weitersprach. »Als Brom das Ei zu den Varden brachte, hatten alle größtes Interesse daran. Die Zwerge sorgten sich vor allem darum, wie man sicherstellen konnte, dass der zukünftige Drachenreiter ein Verbündeter war - obwohl auch einige dagegen waren, dass es überhaupt wieder einen Reiter geben sollte. Die Varden und Elfen hingegen waren eher aus persönlichen Gründen an der Sache interessiert. Der Grund dafür war einfach: In ihrer gesamten Historie waren die Drachenreiter immer entweder Elfen oder Menschen gewesen, in der Mehrzahl Elfen. Es hatte noch nie einen Reiter aus den Reihen der Zwerge gegeben.

Nach dem schändlichen Verrat von Galbatorix behagte es den Elfen gar nicht, das Ei in der Obhut der Varden zu lassen, denn sie befürchteten, der Drache darin könne am Ende womöglich bei einem ähnlich unzulänglichen Menschen ausschlüpfen. Es war eine schwierige Situation, denn beide Seiten wollten den Reiter für sich haben. Die Zwerge verschärften die Lage noch, weil sie bei jeder Gelegenheit die Elfen und uns gegeneinander aufstachelten. Die Spannungen eskalierten, und es wurden Drohungen ausgesprochen, die man später bereute. Das war der Zeitpunkt, als Brom  einen Kompromiss zur Diskussion stellte, der es beiden Seiten erlaubte, das Gesicht zu wahren.

Er schlug vor, dass die Varden und Elfen das Ei abwechselnd jeweils ein Jahr lang in ihre Obhut nehmen sollten. In beiden Lagern würden Kinder daran vorbeilaufen, und die jeweiligen Hüter des Kleinods brauchten einfach nur abzuwarten, ob der Drache schlüpfte. Wenn nicht, sollten sie das Ei nach Ablauf der Jahresfrist der anderen Seite übergeben. Sollte der Drache jedoch schlüpfen, so würde man augenblicklich mit der Ausbildung des neuen Reiters beginnen. Im ersten Jahr sollte er oder sie hier bei uns unterwiesen werden, und zwar von Brom. Dann wollte man den Reiter zu den Elfen bringen, die seine Ausbildung vollenden würden.

Die Elfen nahmen den Vorschlag widerwillig an, unter der Bedingung, dass sie den neuen Reiter ohne fremde Einmischung unterrichten durften, falls Brom starb, bevor der Drache ausschlüpfte. Damit wurde die Vereinbarung zu ihren Gunsten abgewandelt - beide Seiten wussten, dass der Drache voraussichtlich einen Elf er-wählen würde -, aber zumindest hatten wir dadurch den dringend nötigen Anschein von Gleichberechtigung erweckt.«

Ajihad machte eine Pause. Seine dunklen Augen waren ernst. Die Schatten, die ihm von unten ins Gesicht krochen, ließen die Wangenknochen hervortreten. »Wir hofften, der neue Drachenreiter würde unsere Völker einander näher bringen. Wir warteten gut über eine Dekade, doch der Drache ist nie geschlüpft. Allmählich vergaßen wir die Sache und sprachen kaum noch darüber, allenfalls um über die Unfruchtbarkeit des Dracheneis zu lamentieren.

Im letzten Jahr erlitten wir dann einen entsetzlichen Verlust. Arya und das Ei verschwanden auf dem Weg von Tronjheim zur Elfenstadt Osilon. Die Elfen entdeckten als Erste ihr Verschwinden. Sie fanden ihr totes Pferd und die Leichen ihrer ermordeten Begleiter im Wald Du Weldenvarden und in der Nähe eine Horde toter Urgals. Arya und das Ei aber waren verschwunden. Als mich die Kunde erreichte, fürchtete ich sogleich, sie würde von den Urgals gefangen gehalten, und die Ungeheuer würden alsbald erfahren, wo  Farthen Dûr und Ellesméra, die Hauptstadt der Elfen und Sitz der Elfenkönigin Islanzadi, liegen. Jetzt weiß ich, dass die Urgals für das Imperium arbeiten, was noch viel schlimmer ist.

Wie der Überfall im Einzelnen ablief, erfahren wir erst, wenn Arya erwacht, aber einiges kann ich mir nach deinem Bericht schon denken.« Die Goldfäden in Ajihads Weste knisterten, als er sich mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch abstützte. »Der Überfall muss blitzschnell und urplötzlich erfolgt sein, sonst wäre Arya entkommen. Offenbar blieb ihr nichts anderes übrig, als das Ei noch im letzten Moment rasch an einen anderen Ort zu schicken.«

»Sie besitzt magische Kräfte?«, fragte Eragon. Arya hatte ihm zwar erklärt, man hätte ihr eine Droge gegeben, die ihre Fähigkeiten unterdrückte, doch nun wollte er die Bestätigung haben, dass sie damit Magie gemeint hatte. Er fragte sich, ob sie ihm wohl weitere Worte in der alten Sprache beibringen konnte.

»Das war einer der Gründe, weshalb sie ausgewählt wurde, das Ei zu bewachen. Wie auch immer, Arya hätte es nicht zu uns zurückschicken können - dazu war sie schon zu weit entfernt -, und das Reich der Elfen wird von einer geheimnisvollen Barriere geschützt, die verhindert, dass irgendetwas auf magische Weise über seine Grenzen gelangt. In ihrer Verzweiflung muss ihr Brom eingefallen sein, sodass sie das Ei in Richtung Carvahall gesandt hat. Da sie keinerlei Zeit zur Vorbereitung hatte, überrascht es mich nicht, dass sie ihr Ziel um ein gutes Stück verfehlt hat. Die Zwillinge behaupten ohnehin, dass es eine unpräzise Kunst sei.«

»Wieso war sie näher am Palancar-Tal als bei den Varden?«, fragte Eragon irritiert. »Wo leben die Elfen eigentlich? Wo liegt dieses - Ellesméra?«

Ajihads prüfender Blick bohrte sich in Eragons Augen. »Ich verrate dir das nicht leichtfertig, denn die Elfen hüten ihr Wissen mit Argwohn. Aber du solltest es erfahren und ich tue dies als Beweis meines Vertrauens. Ihre Städte liegen hoch im Norden, in den entlegensten Winkeln des endlosen Waldes Du Weldenvarden. Seit der Zeit der Drachenreiter ist den Elfen niemand, egal ob Zwerg oder  Mensch, Freund genug gewesen, um in ihren belaubten Hallen wandeln zu dürfen. Ich wüsste nicht einmal, wie ich Ellesméra finden sollte. Was Osilon betrifft - davon ausgehend, wo Arya verschwand, nehme ich an, es liegt irgendwo am Westrand des Waldes, in Richtung Carvahall. Du hast jetzt bestimmt noch viele andere Fragen, aber bitte warte damit, bis ich fertig bin.«

Er sammelte seine Gedanken und sprach dann in etwas schnellerem Tempo weiter. »Als Arya verschwand, entzogen die Elfen den Varden ihre Unterstützung. Königin Islanzadi war ganz besonders erzürnt und verweigert seither jeden Kontakt mit uns. Das hatte zur Folge, dass, obwohl ich Broms Botschaft erhalten habe, die Elfen noch immer nichts von dir und Saphira wissen ... Ohne ihre Hilfslieferungen für meine Truppen mussten wir in den vergangenen Monaten im Kampf gegen das Imperium einige herbe Niederlagen einstecken.

Nach Aryas Rückkehr und deiner Ankunft erwarte ich, dass die Königin ihre feindselige Haltung ablegen wird. Der Umstand, dass du Arya gerettet hast, wird uns dabei sehr nützlich sein. Deine Ausbildung stellt allerdings für Elfen und Varden gleichermaßen ein Problem dar. Brom hatte offenbar noch Gelegenheit, dir das Wichtigste beizubringen, aber wir müssen genau wissen, wie gründlich er war. Deshalb wirst du dich einer Prüfung unterziehen, damit wir das Ausmaß deiner Fähigkeiten bestimmen können. Außerdem werden die Elfen erwarten, dass du deine Ausbildung bei ihnen beendest, obwohl ich nicht sicher bin, ob dafür noch genug Zeit ist.«

»Warum sollte dafür keine Zeit sein?«, fragte Eragon.

»Aus mehreren Gründen. Der wichtigste ist die Kunde, die du über die Urgals bringst«, sagte Ajihad, und sein Blick wanderte zu Saphira. »Du musst dir bewusst machen, Eragon, dass sich die Varden in einer extrem heiklen Position befinden. Einerseits müssen wir den Wünschen der Elfen nachkommen, wenn wir sie als Verbündete behalten wollen. Andererseits dürfen wir aber die Zwerge auch nicht verärgern, wenn wir weiterhin als Gäste in Tronjheim bleiben wollen.«

»Sind die Zwerge denn keine Verbündeten der Varden?«, wunderte sich Eragon.

Ajihad zögerte. »In gewisser Weise schon. Sie erlauben uns, hier zu leben, und unterstützen unseren Kampf gegen Galbatorix, aber ergeben sind sie nur ihrem eigenen König. Ich habe keine Macht über sie, außer der, die Hrothgar mir zugesteht, und selbst er hat oft genug Ärger mit den Zwergenclans. Die dreizehn Clans unterstehen zwar Hrothgar, aber auch ihre Oberhäupter besitzen große Macht. Sie bestimmen den neuen Zwergenkönig, wenn der alte stirbt. Hrothgar ist unserer Sache wohlgesonnen, aber viele der Anführer nicht. Er kann es sich nicht leisten, sie unnötig zu verärgern, sonst verliert er die Unterstützung seines Volks. Deswegen hat die Hilfe, die er uns gewährt, auch ihre Grenzen.«

»Diese Clan-Oberhäupter«, sagte Eragon, »sind die auch gegen mich?«

»Mehr als alle anderen, fürchte ich«, sagte der Varde verdrossen. »Es herrschte lange Feindschaft zwischen Drachen und Zwergen - bevor die Elfen kamen und sie befriedeten, haben sich die Drachen ständig über die Herden der Zwerge hergemacht und ihr Gold gestohlen. Und die Zwerge vergessen vergangene Missetaten nur langsam, wenn überhaupt. Genau genommen haben sie die Drachenreiter niemals richtig akzeptiert und ihnen sogar untersagt, in ihrem Königreich für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Galbatorix’ Machtübernahme bestärkte sie nur in ihrer Überzeugung, dass sie nie wieder etwas mit Reitern oder Drachen zu tun haben wollten.« Seine letzten Worte richtete er an Saphira.

»Warum weiß Galbatorix eigentlich nicht, wo Farthen Dûr und Ellesméra liegen?«, fragte Eragon. »Er muss doch während seiner Ausbildung zum Drachenreiter von den Orten gehört haben.«

»Von ihnen gehört, ja - aber wo sie liegen, hat man ihm nicht gezeigt. Es ist eine Sache, zu wissen, dass Farthen Dûr sich irgendwo in diesen Bergen befindet, aber es zu finden, ist etwas ganz anderes. Galbatorix hat keinen der beiden Orte gesehen, bevor sein Drache starb. Und danach haben ihm die anderen natürlich nicht mehr getraut. Während seiner Rebellion hat er bei mehreren Reitern versucht, ihnen die Information unter der Folter zu entreißen, aber sie starben lieber, als es ihm zu verraten. Und was die Zwerge selbst anbelangt - nun, es ist ihm nie gelungen, einen von ihnen lebendig gefangen zu nehmen, auch wenn das wohl nur eine Frage der Zeit ist.«

»Warum zieht er nicht einfach so lange mit einer Streitmacht quer durch Du Weldenvarden, bis er Ellesméra findet?«, fragte Eragon.

»Weil die Elfen noch mächtig genug sind, um sich ihm zu widersetzen«, sagte Ajihad. »Er wagt es nicht, seine Kräfte mit den ihren zu messen - vorläufig. Aber seine verfluchten Zauberkünste werden mit jedem Jahr stärker. Hätte er einen weiteren Drachenreiter an seiner Seite, dann könnte ihn nichts mehr aufhalten. Er wartet verzweifelt darauf, dass aus einem seiner beiden Eier der Drache ausschlüpft, aber bisher ist noch nichts geschehen.«

Eragon war verwirrt. »Wie kommt es denn, dass er von Jahr zu Jahr stärker wird? Seine Körperkraft setzt seinen Fähigkeiten doch bestimmte Grenzen - sie können sich doch nicht ewig weiterentwickeln. «

»Wir wissen nicht, wie er es anstellt«, sagte Ajihad achselzuckend, »und die Elfen auch nicht. Wir können nur hoffen, dass ihn eines Tages einer seiner eigenen Zauber zerstört.« Er griff in seine Weste und zog ein zerknittertes Pergament heraus. »Weißt du, was das ist?«, fragte er und legte es auf den Schreibtisch.

Eragon beugte sich vor und betrachtete das Schriftstück. Darauf stand ein merkwürdig verschnörkelter, mit schwarzer Tinte geschriebener Text in einer ihm unbekannten Sprache. Weite Teile waren unleserlich, weil Blut darauf gespritzt war. Am Rand war das Pergament verkohlt. Er schüttelte den Kopf. »Nein, weiß ich nicht.«

»Man hat es dem Anführer der Urgals abgenommen, die wir vergangene Nacht vernichtet haben. Es hat uns zwölf Männer gekostet - sie haben sich geopfert, um dir zur Flucht zu verhelfen. Die Verschlüsselung ist eine Erfindung des Königs. Er benutzt sie, um sich mit seinen Schergen zu verständigen. Es hat eine Weile gedauert,  aber es gelang mir, sie zu übersetzen, zumindest dort, wo man etwas erkennt. Der Text lautet:…der Torwächter in Ithrö Zhada soll dem Überbringer dieses Schriftstücks und seinem Gefolge Einlass gewähren. Man möge sie zu den anderen ihrer Art bringen und ... aber nur, wenn die beiden Gruppen davon absehen, gegeneinander zu kämpfen. Befehlsgewalt haben Tarok, Gashz, Durza und Ushnark, der Mächtige.

 »Ushnark ist Galbatorix. Es bedeutet ›Vater‹ in der Urgal-Sprache. Es gefällt ihm, so genannt zu werden.«

 Findet etwas Passendes für sie und ... Die Fußsoldaten und die ...  bleiben voneinander getrennt. Die Waffen werden erst ausgegeben, wenn ... Marschbefehl erfolgt.

 

 »Danach ist außer einigen wenigen unklaren Worten nichts mehr zu lesen«, sagte Ajihad.

»Wo ist dieses Ithrö Zhada? Ich habe noch nie davon gehört.«

»Ich auch nicht«, gestand Ajihad, »und deswegen vermute ich, dass Galbatorix aus Geheimhaltungsgründen einen bereits existierenden Ort umbenannt hat. Nachdem ich dies entschlüsselt hatte, fragte ich mich, was hunderte von Urgals am Rande des Beor-Gebirges verloren hatten, wo sie euch entdeckt haben, und wohin sie ursprünglich wollten. In dem Schriftstück ist von ›anderen ihrer Art‹ die Rede, daher nehme ich an, dass an ihrem Zielort weitere Urgal-Horden warten. Es gibt nur einen Grund, weshalb der König eine solche Streitmacht zusammenzieht - er stellt eine gemischte Armee aus Menschen und Ungeheuern zusammen, um uns zu vernichten.

Im Augenblick können wir nichts tun, außer abzuwarten und die Augen offen zu halten. Ohne weitere Informationen können wir dieses Ithrö Zhada nicht finden. Trotzdem, Farthen Dûr wurde noch nicht entdeckt, also besteht Hoffnung. Die einzigen Urgals, die den Weg hierher kannten, sind gestern Nacht umgekommen.«

»Woher wusstet ihr eigentlich, dass wir kommen?«, fragte Eragon. »Einer der Zwillinge hat uns erwartet und die Kull gerieten in einen wohl durchdachten Hinterhalt.« Er spürte, dass Saphira aufmerksam zuhörte. Sie behielt ihre Meinung für sich, doch er wusste genau, dass sie ihm später einiges zu sagen haben würde.

»Wir haben am Taleingang Späher postiert, auf beiden Seiten des Bärenzahnflusses. Sie schickten eine Taube los, um uns zu warnen«, erklärte Ajihad.

Eragon fragte sich, ob das wohl der Vogel war, den Saphira gejagt hatte.

»Wurde Brom davon unterrichtet, als das Ei und Arya verschwanden? Er sagte, er hätte nichts von den Varden gehört.«

»Wir haben versucht, ihn zu warnen«, sagte Ajihad, »aber ich nehme an, unsere Männer wurden von den königlichen Schergen abgefangen und umgebracht. Warum hätten die Ra’zac sonst in Carvahall auftauchen sollen? Danach war Brom mit dir unterwegs und wir konnten ihn unmöglich erreichen. Ich war erleichtert, als er mir aus Teirm eine Botschaft zukommen ließ. Es überrascht mich nicht, dass er Jeod aufgesucht hatte; schließlich waren sie alte Freunde. Und für Jeod war es leicht, uns eine Botschaft zu schicken, weil er regelmäßig durch Surda Vorräte zu uns schmuggelt.

All das wirft ernste Fragen auf. Woher wusste das Imperium, wo der Überfall auf Arya gelingen konnte? Woher wussten sie von unseren Boten nach Carvahall? Woher weiß Galbatorix, welche Händler den Varden helfen? Jeod wurde vollständig in den Ruin getrieben, seit du ihn verlassen hast, genau wie die anderen Händler, die uns unterstützen. Jedes Mal wenn eins ihrer Schiffe in See sticht, verschwindet es anschließend. Die Zwerge können uns nicht mit allem versorgen, was wir benötigen, daher sind die Varden auf Hilfe von außen angewiesen. Ich fürchte, wir haben einen Verräter, oder mehrere, in unseren Reihen, trotz unserer Bemühungen, den Geist der Leute zu überprüfen.«

Eragon versank tief in Gedanken über das, was er soeben erfahren hatte. Ajihad wartete geduldig ab, was er dazu zu sagen hätte,  ohne sich von der Stille irritieren zu lassen. Zum ersten Mal, seit er mit Saphiras Ei in Berührung gekommen war, hatte Eragon das Gefühl, zu begreifen, was um ihn herum vorging. Endlich wusste er, wo das Ei herkam und welche Zukunft ihm selbst möglicherweise beschieden war. »Was wollt ihr von mir?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, was erwartet man in Tronjheim von mir? Ihr und die Elfen habt irgendwelche Pläne mit mir, aber was ist, wenn mir diese Pläne nicht gefallen?« Ein harter Unterton schlich sich in seine Stimme ein. »Ich kämpfe, wenn es nötig ist, ich feiere, wenn sich die Gelegenheit ergibt, ich trauere, wenn etwas zu betrauern ist, und ich sterbe, wenn meine Stunde schlägt ... aber ich lasse mich von niemandem gegen meinen Willen benutzen.« Er machte eine Pause, damit seine Worte wirken konnten. »In früheren Zeiten waren die Drachenreiter Hüter der Gerechtigkeit, die jenseits der weltlichen Anführer ihrer Zeit standen. Ich beanspruche diese Position nicht; ich bezweifle sowieso, dass die Menschen eine solche Aufsicht hinnehmen würden, die ihnen neu und fremdartig erscheinen würde, besonders wenn sie von jemandem ausgeübt wird, der so jung ist wie ich. Aber ich besitze nun einmal bestimmte Fähigkeiten und werde sie einsetzen, wann immer es mir richtig erscheint. Was ich wissen möchte, ist, welche Pläne ihr mit mir hegt. Dann werde ich entscheiden, ob ich damit einverstanden bin oder nicht.«

Ajihad lächelte ihn unbeeindruckt an. »Wärst du jemand anders und würdest jetzt vor einem anderen Anführer stehen, dann müsstest du diese dreiste Rede vermutlich mit dem Leben bezahlen. Wie kommst du auf die Idee, ich würde dir meine Pläne verraten, nur weil du es verlangst?« Eragon errötete, schlug aber nicht die Augen nieder. »Trotzdem, du hast Recht. Deine Position verschafft dir das Privileg, solche Dinge auszusprechen. Du kannst den politischen Aspekten deiner Situation nicht entfliehen - man wird dich in der einen oder anderen Richtung beeinflussen. Aber keine Sorge, ich möchte genauso wenig wie du, dass dich irgendjemand vor seinen  Karren spannt. Du musst dir deine Freiheit bewahren, denn in ihr liegt deine wahre Macht: die Möglichkeit, unabhängig von irgendwelchen Anführern oder Königen Entscheidungen treffen zu können. Meine eigene Autorität über dich ist sehr beschränkt, aber ich finde, das ist gut so. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, zu gewährleisten, dass die Machthaber dich in ihre Überlegungen mit einbeziehen.

Außerdem haben die Leute bestimmte Erwartungen an dich, ob du es willst oder nicht. Sie werden mit ihren Problemen, ganz gleich wie geringfügig sie sein mögen, zu dir kommen und fordern, dass du sie löst.« Ajihad beugte sich vor, seine Stimme war jetzt todernst. »Es wird Momente geben, in denen die Zukunft eines Menschen in deinen Händen liegt ... mit einem einzigen Wort kannst du sie selig machen oder ins Unglück stürzen. Junge Frauen werden dich um Rat fragen, wen sie heiraten sollen - viele werden sich dich zum Gatten wünschen -, und alte Männer werden von dir wissen wollen, welches ihrer Kinder einmal ihr Erbe antreten soll. Du musst immer freundlich und weise sein, denn die Menschen setzen ihr Vertrauen in dich. Rede niemals flegelhaft oder unüberlegt daher, denn die Wirkung deiner Worte ist viel weitreichender, als du es dir vorstellen kannst.«

Ajihad lehnte sich zurück, die Lider halb gesenkt. »Das Belastende und Schwierige an einer Führerschaft ist, dass man die Verantwortung für das Wohlergehen der Menschen trägt, für die man sein Amt ausübt. Ich mache mir das seit dem Tage, als mich die Varden zu ihrem Anführer wählten, stets bewusst, und dasselbe musst du jetzt auch tun. Sei bedachtsam. Ich toleriere keine Ungerechtigkeit unter meiner Herrschaft. Mach dir keine Gedanken wegen deiner Jugend und Unerfahrenheit - beides wird schnell genug vergehen. «

Eragon war die Vorstellung, dass die Leute ihn um Rat fragen würden, gar nicht geheuer. »Aber ich weiß noch immer nicht, was ich hier eigentlich tun soll.«

»Fürs Erste gar nichts. Du hast in acht Tagen mehr als vierhundert Meilen zurückgelegt, eine wirklich stolze Leistung. Eine Ruhepause wird dir bestimmt gut tun. Und wenn du dich von den Strapazen erholt hast, testen wir deine Fähigkeiten im Kampf und in der Magie. Danach erkläre ich dir, welche Möglichkeiten du hast, und dann entscheidest du, welchen Weg du einschlagen willst.«

»Und was ist mit Murtagh?«, fragte Eragon herausfordernd.

Die Miene des Varden verdüsterte sich. Er griff unter seinen Schreibtisch und holte Zar’roc hervor. Die polierte weinrote Schwertscheide glänzte im Licht. Ajihad strich mit der Hand darüber und hielt über dem eingravierten schwarzen Wappen inne. »Er bleibt hier, bis er den Zwillingen Zugang zu seinem Geist gewährt. «

»Man kann ihn doch nicht einkerkern«, sagte Eragon. »Er hat doch nichts verbrochen!«

»Wir können ihm nicht seine Freiheit geben, ohne sicher zu sein, dass er sich nicht gegen uns wendet. Ob unschuldig oder nicht, er stellt für uns dieselbe potenzielle Gefahr dar wie sein Vater«, sagte Ajihad mit einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme.

Eragon merkte, dass der Varde sich nicht umstimmen lassen würde, und seine Sorge war in der Tat nachvollziehbar. »Wie konntest du seine Stimme erkennen?«

»Ich bin einmal seinem Vater begegnet«, sagte Ajihad knapp. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf Zar’rocs Griff. »Ich wünschte, Brom hätte mir gesagt, dass er Morzans Schwert an sich genommen hat. Du solltest es in Farthen Dûr besser nicht tragen. Viele erinnern sich noch mit Schrecken an Morzans Taten, besonders die Zwerge.«

»Ich werde es mir merken«, versprach Eragon.

Ajihad reichte ihm das Schwert. »Da fällt mir ein, dass ich ja noch Broms Ring habe, den er mir zur Bestätigung seiner Identität schickte. Ich wollte ihn bis zu seiner Rückkehr nach Tronjheim aufbewahren. Da er nun tot ist, nehme ich an, der Ring gehört dir, und ich denke, er hätte gewollt, dass du ihn bekommst.« Er zog ein Schubfach auf und holte den Goldring heraus.

Eragon nahm ihn ehrfürchtig entgegen. Das in die Oberfläche des Saphirs eingravierte Symbol glich der Tätowierung an Aryas Schulter. Er schob sich den Ring auf den Zeigefinger und bewunderte, wie sich das Licht darin fing. »Ich ... ich fühle mich tief geehrt«, sagte er.

Ajihad nickte ernst, dann schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. Er ging zu Saphira und sagte mit feierlicher Stimme: »Glaub nicht, ich hätte dich vergessen, o mächtiger Drache. Ich habe diese Dinge ebenso zu deinem Wohl gesagt wie zu Eragons. Und es ist fast wichtiger, dass du darüber Bescheid weißt, denn dir obliegt die Aufgabe, ihn in diesen gefährlichen Zeiten zu beschützen. Unterschätze nicht deine Kraft, und lass ihn nie im Stich, denn ohne dich ist er verloren.«

Saphira senkte den Kopf, bis sich ihre Augen auf gleicher Höhe mit seinen befanden, und sah ihn durch ihre geschlitzten schwarzen Pupillen an. Sie betrachteten einander schweigend; keiner von ihnen wandte den Blick ab. Ajihad bewegte sich schließlich als Erster. Er schlug die Augen nieder und sagte: »Es ist ein großes Privileg, dich kennen zu lernen.«

Saphira blinzelte verlegen und schwenkte den Kopf zu Eragon hinüber. Sag ihm, ich bin beeindruckt von ihm und von Tronjheim. Das Imperium fürchtet ihn zu Recht. Sag ihm aber auch, dass ich, falls er vorgehabt hätte, dich zu töten, Tronjheim zerstört und ihn mit den Zähnen in Stücke gerissen hätte.

Eragon zögerte, überrascht von der Schärfe in ihrer Stimme, dann gab er die Botschaft weiter. Ajihad sah sie ernst an. »Von einem so edlen Geschöpf wie dir hätte ich nichts anderes erwartet - aber ich bezweifle, dass du die Zwillinge überwältigen könntest.«

Saphira schnaubte verächtlich. Pah!

Eragon wusste, was sie meinte, und sagte: »Dann müssen sie aber viel stärker sein, als es scheint. Ich glaube nicht, dass die beiden dem Zorn eines Drachen gewachsen wären. Mit vereinten Kräften wären sie vielleicht imstande, mich zu besiegen, aber niemals Saphira. Du musst wissen, dass ein Drache die magischen Kräfte seines Reiters  weit über das Maß eines normalen Magiers hinaus steigert. Deswegen war Brom immer schwächer als ich. Ich glaube, in Abwesenheit der Drachenreiter haben die Zwillinge angefangen, sich gehörig zu überschätzen.«

Ajihad wirkte beunruhigt. »Brom galt bisher immer als derjenige unter uns mit den ausgefeiltesten magischen Fähigkeiten. Nur die Elfen übertrafen ihn. Wenn das, was du sagst, wahr ist, müssen wir viele wichtige Punkte neu überdenken.« Er verneigte sich vor Saphira. »Nun, ich bin jedenfalls froh, dass es nicht nötig war, miteinander zu streiten.« Saphira senkte ihrerseits das Haupt.

Dann richtete sich der Vardenfürst mit einer herrschaftlichen Gebärde auf und rief: »Orik!« Der Zwerg kam herbeigeeilt und stellte sich mit verschränkten Armen vor den Schreibtisch. Ajihad musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Du hast mir großen Ärger ein-gehandelt, Orik. Ich musste mir den ganzen Morgen lang die Beschwerden der Zwillinge über deinen Ungehorsam anhören. Sie geben keine Ruhe, solange du nicht bestraft wirst. Leider sind sie im Recht. Es ist eine ernste Angelegenheit, die man nicht einfach übergehen kann. Was hast du dazu zu sagen?«

Oriks Blick wanderte kurz zu Eragon, doch auf seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Gefühlsregung. Er sprach schnell und in rauem Ton. »Die Kull hatten den Kóstha-mérna schon fast umrundet. Sie beschossen den Drachen, Eragon und Murtagh mit Pfeilen, aber die Zwillinge taten nichts, um sie aufzuhalten. Als ob ... Nun, jedenfalls weigerten sie sich, die Tore zu öffnen, obwohl Eragon auf der anderen Seite des Wasserfalls die richtigen Worte rief. Und sie weigerten sich einzugreifen, als Eragon nicht wieder an die Wasseroberfläche kam. Vielleicht habe ich etwas Falsches getan, aber ich konnte doch einen Reiter nicht ertrinken lassen.«

»Mir fehlte die Kraft, allein aus dem Wasser zu kommen«, sagte Eragon. »Ich wäre wirklich ertrunken, wenn er mich nicht herausgezogen hätte.«

Ajihad schaute kurz zu ihm hinüber, dann fragte er Orik ernst: »Und warum hast du dich ihnen später widersetzt?«

Orik reckte trotzig das Kinn. »Es war nicht richtig, dass sie gewaltsam in Murtaghs Geist eindringen wollten. Aber ich hätte sie nicht aufgehalten, wenn ich gewusst hätte, wer er ist.«

»Nein, du hast dich richtig verhalten, obwohl es die Situation vereinfachen würde, wenn du es nicht getan hättest. Es steht uns nicht zu, gewaltsam den Geist eines Menschen zu unterwerfen, ganz gleich wer er ist.« Ajihad betastete seinen dichten Bart. »Deine Taten waren ehrenhaft, aber du hast den ausdrücklichen Befehl deines Vorgesetzten missachtet. Die Strafe dafür war stets der Tod.« Oriks Rückenmuskeln verkrampften sich.

»Deswegen kann man ihn doch nicht umbringen! Er hat mir das Leben gerettet«, rief Eragon entsetzt.

»Du bist nicht befugt, dich einzumischen«, sagte Ajihad streng. »Orik hat das Gesetz gebrochen und muss die Konsequenzen tragen. « Eragon wollte erneut widersprechen, doch Ajihad fiel ihm mit einer Handbewegung ins Wort. »Aber du hast Recht. Aufgrund der äußeren Umstände wird die Strafe herabgesetzt. Orik, du bist mit sofortiger Wirkung vom aktiven Dienst freigestellt und wirst vorerst an keinen militärischen Übungen mehr teilnehmen. Hast du verstanden? «

Oriks Gesicht verfinsterte sich, aber dann sah er nur noch verwirrt aus. Er nickte stramm. »Jawohl.«

»Ferner ernenne ich dich, in Vertretung deiner üblichen Pflichten, für die Dauer ihres Aufenthalts zu Eragons und Saphiras persönlichem Leibwächter. Du wirst dafür Sorge tragen, dass sie jeden Komfort und jede Annehmlichkeit erhalten, die wir zu bieten haben. Saphira wird auf Isidar Mithrim ihr Quartier beziehen. Eragon kann wohnen, wo er möchte. Wenn er sich von seinen Strapazen erholt hat, bringst du ihn zum Übungsplatz. Sie erwarten ihn dort«, sagte Ajihad, ein amüsiertes Zwinkern im Auge.

Orik verneigte sich fast bis zum Boden. »Ganz zu Diensten.«

»Sehr schön und nun dürft ihr gehen. Wenn ihr draußen seid, schickt die Zwillinge rein.«

Eragon verneigte sich ebenfalls und wandte sich zum Gehen,  aber dann fiel ihm noch etwas ein. »Wo finde ich Arya? Ich würde sie gern sehen.«

»Es ist niemandem erlaubt, sie zu besuchen. Du wirst warten müssen, bis sie zu dir kommt.« Ajihad blickte nach unten auf seinen Schreibtisch, ein deutlicher Hinweis, dass sie entlassen waren.

 

Das Vermaechtnis der Drachenreiter
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